Für mehr Aufklärung stellte sich unsere Gruppenleiterin Nadine Böttcher für ein Interview der Braunschweiger Zeitung zur Verfügung.
Das Ergebnis konnte man am 6. Januar in der Zeitung lesen.
Hier nun für alle auch hier noch der Artikel zum Nachlesen und Teilen.
Nadine Böttcher war eine sportliche Frau. Später schaffte sie es nicht mal mehr die Treppe hoch. Ein Erfahrungsbericht.
Floris Jäger
Braunschweig. Bis zu dreimal in der Woche ging Nadine Böttcher früher ins Fitnessstudio, einmal die Woche spielte sie außerdem Squash, und bei Gelegenheit ging sie am Wochenende noch eine Runde schwimmen. Die damals 18-jährige Fran war sportlich und wirkte auf den ersten Blick gesund. Doch in ihrem Körper verbreitete sich schon damals etwas was da eigentlich nicht hingehört, kranke Fettzellen, sogenannte Lipödeme.
Diese Krankheit - festgestellt per Zufallsdiagnose - hat Nadine Böttchers Leben nur wenige Jahre später auf den Kopf gestellt. Heute, sieben Operationen und viele Schmerzen später, hilft die 36-Jährige anderen von Lipödem betroffenen Frauen. Was in der Zwischenzeit alles geschah, erzählt sie im Gespräch mit unserer Zeitung.
Lipodem ist eine chronische Fettverteilungsstörung. Was diese Krankheit auszeichnet, ist eine disproportionale Vergrößerung der Beine oder der Arme. Hände und Füße sind nicht betroffen. Schweregefühl, Schmerzen, Druckempfindlichkeit und blaue Flecken sind typische Beschwerden. Warum von der Krankheit meist nur Frauen betroffen sind, kann nur vermutet werden, meint Dr. G. Felix Brölsch.
Der Mediziner ist Inhaber der Facharztpraxis Löwen Ästhetik. Die Praxis bietet Fettabsaugungen in Kooperationen mit Beleg- und Tageskliniken für Lipödem-Patientinnen an. "Ein Ausbruch der Krankheit ist häufig verbunden mit hormonellen Veränderungen. Also beispielsweise der Eintritt in die Pubertät, im Rahmen einer Schwangerschaft oder auch später mit Beginn der Menopause", erklärt der Spezialist. Das Tragen von Kompressionskleidung oder Lymphdrainage könne gegen die Schmerzen helfen. Eine Heilung gibt es nicht. Das Fett selbst werden Betroffene nicht durch Abnehmen los, sondern nur durch eine Fettabsaugung.
Die ersten Anzeichen ihrer Krankheit bemerkte Nadine Böttcher, als sie etwa 18 Jahre alt war: "Beim Treppensteigen hatte ich ständig schwere Beine, war aus der Puste, obwohl ich sportlich war. Irgendwann habe ich nur noch eine Etage am Stück geschafft", erinnert sie sich.
Den ersten großen Lipödem-Schub erlitt die junge Frau 2008. Nach einem einschneidenden familiären Ereignisses nahm Böttcher 20 Kilo zu. "Es kommt tatsächlich öfter vor, dass nach solchen Ereignissen mit starken psychischen Belastungen zeitversetzt Schübe ausgelöst werden", sagt die 36-Jährige.
Die ausschlaggebende Diagnose kam dann eher zufällig. 2010 erlitt die junge Frau einen Ski-Unfall, bei dem sie sich ein Knie verletzte. Einem Physiotherapeuten sei dann ihre disproportionale Fettverteilung in ihren Beinen aufgefallen.
Wenige Monate später bestätigte ein Gefäßarzt die Diagnose Lipödem. Doch weitere fünf Jahre trat wegen falsch verschriebener Hilfsmittel keine Besserung ein. Die Schmerzen seien sogar immer schlimmer geworden. Böttcher beschreibt sie wie einen extremen Muskelkater - nur viel intensiver. "Jede empfindet das anders, keine Erkrankung ist wie die andere", so die 36-Jährige. Im Laufe der Zeit, mit den richtigen Kompressionsstrümpfen und Lymphdrainage, kam Böttcher irgendwann zurecht, sogar so gut, dass sie im März 2017 den Jakobsweg gelaufen ist. Doch so sollte es nicht bleiben.
Nur wenige Monate später wurden die Beschwerden wieder schlimmer. „Ich konnte mir irgendwann nicht mal mehr die Haare föhnen, ohne meinen Arm dabei abzustützen", erinnert sich Böttcher. Vorher noch den Jakobsweg bezwungen, schaffte sie es nun nicht mal mehr, auch nur einen Kilometer zu gehen.
2017 stellte sie bei der Krankenkasse einen Antrag auf eine spezielle Fettabsaugung. Nachdem der Antrag zunächst abgelehnt worden sei, habe Böttcher Einspruch eingelegt und Glück gehabt. Die erste von ins gesamt sieben sogenannten „Liposuktionen" an Armen und Beinen erfolgte 2018 bei einem Chirurgen in Kassel. Teilweise bis zu acht Liter Fett saugte der Chirurg Böttcher bei einer OP ab, erzählt sie. In der Regel bezahle die Krankenkasse eine Operation nur in einem fortgeschrittenen Stadium. Die Kosten für Selbstzahler würden im Bereich von 3.000 bis 10.000 Euro liegen, sagt die Erkrankte.
Schon nach der ersten OP verspürte sie eine Linderung der Schmerzen, erinnert sich Böttcher. Zwölf Nadel-Einstichstellen hat sie inzwischen alleine an nur einem Arm. An den Oberarminnenseiten entlang läuft jeweils eine weitere, etwa 30 Zentimeter lange Narbe. Die ist von einer Hautstraffung, um die bleibenden Hautlappen nach der Fettabsaugung zu reduzieren.
Ihr Antrag für eine weitere Hautstraffung an ihren Beinen sei allerdings von der Versicherung abgelehnt worden. "Es sei nicht entstellend", habe es geheißen. "Doch im Sommer glotzen alle trotzdem auf meine Beine", ärgert sich Böttcher. Seit vier Jahren befinde sie sich deswegen schon in einem Rechtsstreit mit der Krankenkasse.
Die psychische Belastung bei dieser Krankheit seien groß, weiß Böttcher. Viele Frauen kämen in eine Art Teufelskreis: Durch die Schmerzen würden sie sich weniger bewegen, durch weniger Bewegung zusätzlich zunehmen, seien deshalb gefrustet, würden mehr essen. Die Gesellschaft stigmatisiere Erkrankte als "dick und faul" - es werde leider zu wenig Aufklärung betrieben, beklagt Böttcher.
Auch Brölsch weiß: "Selbst unter Medizinern ist es sehr, sehr schwierig, ein Lipödem zu diagnostizieren. Bei einem Lipödem gibt es keine Tests oder bildgebende Verfahren, wie beispielsweise ein Ultraschall, die nachweisen, dass das vorliegt." Daher gebe es viele Fehldiagnosen.
„Die Anzahl an Hilfe suchenden Patientinnen in Bezug auf eine mögliche Lipödem-Erkrankung hat in den vergangenen fünf Jahren exponentiell zugenommen", so der Facharzt. Andererseits habe auch die Anzahl der Frauen, die meinen ein Lipödem zu haben, aber eigentlich adipös seien, ebenfalls zugenommen. Der Grund für diese hohen Zahlen liege vermutlich darin, dass durch die sozialen Medien und andere Kanäle die Erkrankung mehr Aufmerksamkeit erfahren hat, meint der Arzt.
Auf Instagram und Co. kursieren Videos über Selbsttests, an denen eine Frau erkennen könne, ob sie eventuell Lipödem hat. Ein Beispiel: Wenn sich beim Zusammenquetschen einer Fettfalte kleine Kügelchen unter der Haut abzeichnen, sei das ein Zeichen für Lipödem. Auf die Frage, was der Experte von solchen Tests halte, antwortet der: "Im Grunde genommen gar nichts." Wenn der Verdacht besteht, dann empfiehlt Brölsch einen Spezialisten aufzusuchen. Auch Lipödem-Selbsthilfegruppen können fachkundige Ärzte empfehlen.
Auch Nadine Böttcher weiß um die Wichtigkeit von Selbsthilfegruppen. 2018 gründete die 36-Jährige ihre eigene. Sie nennt sich die "Löwen LiLys". Einmal im Monat treffen sich zwischen acht und zwölf Frauen im Awo-Nachbarschaftsladen in Heidberg. ,„Wir tauschen uns aus und geben uns gegenseitig Tipps. In einer kleinen Bibliothek können sich die Frauen Fachliteratur ausleihen oder bekommen bei uns Informationen zu seriösen Ärzten", sagt sie.
Nadine Böttcher wird nie "geheilt" sein. Mindestens eine weitere Fettabsaugung wolle die 36-Jährige wahrscheinlich noch über sich ergehen lassen, da sie wieder einen Lipödem-Schub erlitten habe, sagt sie. „Ich wünsche mir, dass unsere Krankheit endlich ernst genommen wird und wir die Aufmerksamkeit und Unterstützung erhalten, die wir so dringend brauchen".
Die Löwen LiLys treffen sich ab Januar 2025 jeden dritten Sonntag im Monat im Awo-Nachbarschaftsladen in Heidberg. In regelmäßigen Abständen lädt die Gründerin beispielsweise auch Kompressionshersteller oder Ärzte und Physiotherapeuten zu einem Gespräch mit den Frauen ein. Bekannt gegeben werden die Veranstaltungen über die Homepage und Social Media.
Mehr Informationen zu Lipödem und der Selbsthilfegruppe gibt es auf der Internetseite www.lipoedem-shg-braunschweig.de, telefonisch unter (0163) 9701736 oder per Mail lipoedem-shg- braunschweig@web.de.